David Hockney: „Six fairy tales from the Brothers Grimm“ (1970)
Im Zentrum von Hockneys graphischem Werk stehen drei große Zyklen, von denen der Zyklus „Six fairy tales from the Brothers Grimm“ mit 39 Blatt der umfangreichste ist. Die zwischen Mai und November 1969 entstandenen Radierungen sind Illustrationen zu sechs Märchen, den bekannten „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“, „Rapunzel“ und „Rumpelstilzchen“ sowie den weniger bekannten „Fundevogel“, „Das Meerhäschen“ und „Oll Rinkrank“. Die sechs Märchen sind mit den Illustrationen auf Englisch als großformatiges Buch erschienen, ergänzt von einer Mappe mit jeweils sechs losen Radierungen aus dem Zyklus.
Die herrlichen Graphiken sind eigentlich weniger Illustration denn Interpretation. In der ihm eigenen Manier schuf der berühmte Brite Bildwelten von einprägsamer Unmittelbarkeit, die den Grimm’schen Erzählungen entsprechen. Die Märchen, die ein eigentümliches Spektrum menschlicher Erfahrungen abdecken, „von magisch bis moralisch“, wie Hockney sagt, sind sprachlich und stilistisch vergleichsweise schnörkellos, was Hockney unmittelbar in sparsame künstlerische Mittel übersetzt. Mit wenigen Strichen umreißt er in scheinbar naivem Duktus seine Figuren, die er auf flächige Bühnen platziert. Sonderbar und berührend, unheimlich und tröstend zugleich wirken die unbeholfenen Illustrationen, in denen sich das kindliche Gemüt unmittelbar zu spiegeln scheint.
Besonders angezogen fühlte sich Hockney von Geschichten, die ihn auch vor künstlerische Herausforderungen stellten, wie etwa dem gläsernen Berg aus „Oll Rinkrank“. Den elaborierten Fragen nach der Darstellung von räumlicher Ausdehnung und materiellen Eigenschaften begegnet Hockney mit unvergleichlichem Understatement. Das hinter dem gläsernen Berg Liegende gibt er einfach nur mit etwas schwächeren Linien wieder; Schornstein und Baumkrone lässt er sich seitlich noch ein wenig krümmen, schließlich ist der Berg ja zum Betrachter hin gewölbt und muss daher wie ein Zerrspiegel wirken.
Mit geradezu kindlicher Freude treibt Hockney hier seinen kunsttheoretischen Schabernack und antwortet komplexen künstlerischen Fragestellungen mit der gleichen Mischung aus Oberflächlichkeit und Tiefgang, den sein eben nur auf den ersten Blick so hedonistisch anmutendes Oeuvre insgesamt auszeichnet. In dem Zyklus unterstreicht diese für ihn so charakteristische Mischung die Ambivalenz der Grimmschen Märchen, in denen sich im Vertrauten das Fremde und unter der Oberfläche das Abgründige öffnet.
David Hockney (geb. 1937) ist einer der einflussreichsten Künstler der Gegenwart. Der vielseitig begabte Maler, Zeichner, Fotograf und Bühnenbildner wurde vor allem mit seinen Gemälden bekannt, die populäre Settings zeigen wie etwa seine berühmten „Swimmingpool“-Gemälde, was ihm den Ruf eines Pop Art-Künstlers eintrug. Doch ist Hockney viel zu experimentell, um in solchen kunsthistorischen Kategorisierungen aufzugehen, gegen die er sich auch zeitlebens wehrte.
Sein zarter, zeichnerischer Stil mit klaren Konturen und geschlossenen Flächen fasst Figur und Grund in einfache Formen und oft kräftige Farben. Licht und Lebensart seiner damaligen kalifornischen Wahlheimat durchfluten Freizeitszenen ebenso wie Stillleben. Auch die zahlreichen Porträts sind von einem ‚stillen Leben‘ erfüllt. Ein Hauch von melancholischem Hedonismus durchweht seine Bilder, die bei aller scheinbarer Schlichtheit von einer souveränen Kenntnis künstlerischer Grundfragen von Raum und Fläche, Figur und Grund, Kontur und Kolorit künden.
Hockney setzt sich intensiv mit den optischen Hilfsmitteln und technischen Apparaturen auseinander, welche die Malerei seit über hundert Jahren beeinflussen, und zwar sowohl auf der Ebene des Sehens als auch des Produzierens. Früh experimentierte er mit der Kamera und später auch mit Fotokopierer und Faxgerät. Er nutzte Polaroids als Vorlagen seiner Gemälde und setzte Fotografien zu großformatigen Collagen zusammen.
Mit großer Begeisterung nutzt er die digitalen Bildmittel. Seit den 2000er Jahren schuf er eine Vielzahl von Computer-, iPhone- und iPadzeichnungen, betörend bunt und lustvoll linkisch, die die scheinbare Unbeholfenheit Hockneys in extremis steigern. Trotz ihrer Technikaffinität haben sie nichts vom typisch Hockneyschen Ausdruck eingebüßt und widersprechen damit dem Benjaminschen „Verlust der Aura“ durch „technische Reproduzierbarkeit“ des Kunstwerkes.
1968 nimmt er an der documenta 4, 1977 an der documenta 6 in Kassel teil. Von 2018 bis 2019 ist er auch Rekordhalter auf dem Kunstmarkt: Sein berühmtes Gemälde „Portrait of an Artist (Pool with Two Figures)“ von 1972 erzielt beim Auktionshaus Christie’s in New York 90 Millionen Dollar und ist damit das bis anhin teuerste Werk eines lebenden Künstlers.